12.10.2023Autor: Rainer Ammel1 Kommentar

Der Frust leistungsstarker Schüler(innen)

Vor etwa vier Monaten rief ich in einem Video auf meinem YouTube-Kanal Mathegym die damals fast fertigen Abiturienten dazu auf, einen persönlichen Kommentar zu verfassen, der die positiven und negativen Seiten ihrer zurückliegenden Schulzeit beleuchtet. Die meisten negativen Kommentare prangerten erwartungsgemäß den Leistungsdruck am Gymnasium an. Nur ein Schüler beklagte sich über genau das Gegenteil: zu wenig Leistungsanspruch der Schule bzw. zu wenig Interesse und Leistungsbereitschaft vieler Mitschüler.

Unterforderung im Unterricht

Ich vermute, dass in jeder Klasse mindestens drei Schüler ähnlich denken und fühlen – nur hört man ihre Stimme in der Regel kaum. Diese Schüler wissen genau, dass sie eine Minderheitenmeinung und noch dazu noch eine ziemlich „uncoole“ vertreten, insofern halten sie sich mit öffentlicher Kritik eher zurück. Umso dankbarer bin ich über den ehrlichen Kommentar meines ehemaligen Schülers, den ich hier im Original zitiere:

Ich finde es schade, dass das dreigliedrige Schulsystem in den letzten beiden Jahrzehnten de facto immer weiter abgeschafft wurde. Es ist nun mal so, dass es leistungsstarke und weniger leistungsstarke Schüler gibt. Die einen tun sich nun mal durch sprachliche, naturwissenschaftliche… Begabungen mit dem Gymnasium leichter, andere wiederum sind vielleicht eher anderweitig interessiert oder begabt und dementsprechend besser auf der Real- oder Hauptschule aufgehoben. Die Folge davon, dass jeder auf das Gymnasium geht ist natürlich, dass nicht mehr individuell auf den Leistungsstand eines Schülers eingegangen werden kann. Man muss sich an den schwächeren Schülern orientieren, wodurch immer mehr Inhalte aus dem Lehrplan gesteichen werden. Zeit für Exkurse im Unterricht o.Ä. bleibt überhaupt nicht mehr. Ich kann mich noch an ein Arbeitsblatt zum Thema Binomialkoeffizient an Anfang der 12. Klasse erinnern. In einer Aufgabe ging es darum, den Zusammenhang zwischen Pascalschem Dreieck und Binomialkoeffizient zu erfassen. Dafür war im Unterricht aber kein Platz, da viele leider noch nicht einmal die Grundlagen des Themas verstanden haben. Das Ziel des Unterricht ist es leider nicht mehr, die Schüler herauszufordern und ihnen so viel wie möglich beizubringen, sondern es geht nur noch darum, dass alle irgendwie das Abitur bestehen, was durch die Noteninflation auch nochmal erleichtert wird. Somit hatte ich in den letzten Jahren leider oft das Gefühl, meine Zeit nicht optimal zu nutzen. Ich finde es immer interessant, wenn sich Eltern/Schüler über ein zu schweres Abitur, zu viel Prüfungen und „Leistungsdruck“ beschweren. Das Gymnasium als höchste Schulform hat nun mal diese Ansprüche; es muss niemand auf das Gymnasium gehen. Ich kann in diesem Zusammenhang den Youtube Kanal von Prof. Bernhard Krötz empfehlen, insbesondere das Video https://youtu.be/GhmEYB3Kq-o wo unser Schulsystem mit dem Indiens und mit unserem Schulsystem vor 50 Jahren verglichen wird.

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Tatsächlich kümmert man sich als Lehrer eher um die Nöte der leistungsschwachen Schüler und geht implizit davon aus, dass die sehr guten und guten Mitschüler Verständnis dafür haben werden, wenn man den neuen Stoff zum fünften Mal erklärt. Schließlich sollen ja alle mitkommen. Über die Folgen von Langeweile macht man sich weit weniger Gedanken als über die Folgen von Überforderung.

Ich erinnere mich an ein wissenschaftliches Kolloquium zum Thema „Langeweile als negative Emotion“, an dem ich im Rahmen der schulpsychologischen Ausbildung teilnahm. Anhaltende Langeweile durch Unterforderung wurde vom Vortragenden als stark unterschätzte negative Emotion beschrieben. Die Folgen reichen von Motivationsverlust über Leistungsversagen bis hin zu Verhaltensauffälligkeiten, z.B. aggressive Störung des Unterrichts. Wenn am Ende der Schulzeit das Gefühl zurückbleibt, seine Zeit größtenteils verschwendet zu haben, ist das nicht nur für den einzelnen Schüler bedauerlich. Auch unsere Gesellschaft, die mit anderen Ländern im internationalen Wettbewerb steht, kann kein Interesse daran haben, ihre schulische Elite zu vernachlässigen.

China und Indien trimmen ihre Schüler und Studenten zu Höchstleistungen

Vor kurzem erhielt ich auf ein Reaktionsvideo (Prof. Dr. Krötz – Vergleich NRW-Indien) folgenden Kommentar eines Wissenschaftlers, der uns vor Augen führt, wohin es führen kann, wenn wir leistungsstarke Schüler nicht schon vom Kindesalter an angemessen herausfordern und fördern.

Ich halte es für unnötig, mich darüber auszulassen, inwieweit die Art des Vergleiches angemessen ist oder nicht. Denn am Ende ist als Vergleichsmaßstab für das Potential entscheidend, wer den Bereich wissenschaftlicher Exzellenz in Deutschland und auch international dominiert. Und das sind an dem deutschen naturwiss. Institut an dem ich mich bewege, mit deutlich über 80%, angefangen bei studentischen Gästen und Doktoranden, Menschen aus Asien mit Chinesen und Indern auf den ersten beiden Plätzen. Danach folgen einige aus dem mittleren Osten und dem russischsprachigen Raum. Und ganz, ganz hinten wissenschaftlert die Minderheit von Deutschen, die es noch durch den Anspruchsfilter geschafft hat. Krötz Ansichten oder Darstellungsweisen mögen anzweifelbar sein, aber er zeigt naheliegende Ursachen dafür auf, was sich in meiner Arbeitsrealität nachvollziehen lässt.

@nopet-tf8mk

Ich weiß natürlich nicht, inwieweit dieser Kommentar die Realtität an deutschen Hochschulen widerspiegelt. Auch kann man darüber streiten, ob zwischen dem Kommentar des Schülers und der Beobachtung des Wissenschaftlers ein Zusammenhang besteht. Für mich allerdings ist naheliegend: Wenn ein leistungsstarker Schüler, der das Potential zu einem sehr guten Mathematiker hätte, wegen andauernder Unterforderung keinen Gefallen an diesem Fach gefunden hat und deshalb andere berufliche Wege einschlägt, ist evtl. nicht nur ihm persönlich, sondern auch der Wissenschaft eine Chance entgangen. Ebenso in dem Fall, wo sich ein mathematisch talentierter Schüler zwar für das Studium der Mathematik entscheidet, im ersten Semester aber mangels Vorwissen hart aufschlägt und frustriert das Fach wechselt.

Was können wir Lehrer, was kann die Schule dafür tun, damit motivierte und leistungsstarke Schüler dem Frust der Unterforderung nicht länger ausgesetzt sind?

Lösungsansatz 1: zurück zum Gymnasium der 80er Jahre

Der oben zitierte Schüler stellt zurecht die Frage, warum heutzutage so viele Kinder und Jugendliche das Gymnasium besuchen. Um das mal in konkrete Zahlen zu fassen: in München, wo ich lebe, treten nach der Grundschule annähernd 60% aller Schülerinnen und Schüler an das Gymnasium über. Die restlichen 40% verteilen sich zu etwa gleichen Teilen auf Real- und Mittelschule (früher „Hauptschule“). Das war vor 40 Jahren, als ich zur Schule ging, noch ganz anders. Da schaffte es nur ein kleiner Teil Grundschüler ans Gymnasium, alle anderen gingen in Bayern erst einmal auf die Hauptschule, die besseren dort konnten nach der sechsten Klasse an die Realschule wechseln. Insgesamt ein wesentlich schlüssigeres System: die „Hauptschule“ als die Schulform, die nach der Grundschule auch von den meisten Schülern besucht wird.

Heutzutage dagegen gelten Mittelschulen und selbst Realschulen oftmals nur noch als „Resterampe“. Viele Eltern sehen ihre Kinder vom Interesse und Lernstil her eigentlich nicht geeignet für den Besuch des Gymnasiums, melden diese dann aber trotzdem dort an, weil die Alternative aus ihrer Sicht recht trostlos ist. Ein Teufelskreis!

Der Run aufs Gymnasium hat aber nicht nur das Abitur zur Massenware verkommen lassen, sondern auch zur Abwertung von Quali und Mittlerer Reife geführt. Für viele Ausbildungsberufe, die früher mit den Bildungsabschlüssen von Haupt- und/oder Realschule zu erreichen waren, wird heutzutage das Abitur vorausgesetzt. Es wäre somit im Interesse aller Schülerinnen und Schüler, wenn die Gymnasialquote wieder deutlich zurückginge.

  • weniger Druck, aufs Gymnasium gehen zu müssen
  • besseres Lernumfeld an Mittel- und Realschulen
  • Aufwertung der Bildungsabschlüsse dort
  • anspruchsvollerer Unterricht am Gymnasium

Lösungsansatz 2: Den Unterricht noch viel mehr differenzieren

Aus meiner Sicht gäbe es aber noch einen zweiten Weg aus der Bildungsmisere. Dazu muss man sich zunächst bewusst machen, dass das Gymnasium im internationalen Vergleich ein Sonderweg ist, fast alle anderen Länder lassen ihre Schüler viel länger gemeinsam lernen, bevor ein Teil von ihnen den Weg Richtung Abitur einschlägt. In Finnland, berühmt für sein seit vielen Jahren exzellentes Ranking im Pisa-Test, besuchen alle Schüler bis zur einschließlich neunten Klasse dieselbe Schulform. Man muss sich also fragen, wie es in solchen Ländern gelingt, die leistungsstarken Schüler mitzunehmen, ohne die Leistungsschwachen zu überfordern. Die Antwort: konsequente Binnendiffernzierung und Individualisierung. Diese Begriffe sind deutschen Lehrerinnen und Lehrern natürlich nicht fremd, aber eine konsequente Umsetzung habe ich im Gymnasialbereich eher selten erlebt – was vermutlich auch damit zu tun hat, dass die gut gemeinten Konzepte nicht nur aufwändig in der Vorbereitung, sondern v.a. auch in der Durchführung des Unterrichts sind. Fairerweise muss auch erwähnt werden, dass finnischen Lehrern während des Unterrichts eine Fachkraft zur Seite steht, die sich speziell der Schüler mit Lernschwierigkeiten annimmt.

Man mag als Praktiker, dem derlei Luxus nicht vergönnt ist, also mit den Augen Rollen, wenn Bildungsforscher hierzulande über die Segnungen der Binnendifferenzierung schwadronieren. Allerdings habe ich in den zwanzig Jahren, die ich als Lehrer am bayerischen Gymnasium tätig war, mit einer Light-Version von Binnendifferenzierung recht gute Erfahrung gemacht. Es ist die Mischform aus Frontalunterricht und selbstgesteuerten Übungsphasen, in denen eine Auswahlmöglichkeit bzgl. der zu bearbeitenden Aufgaben besteht, so dass leistungsstarke Schüler die eher einfachen Aufgaben auslassen und sich vermehrt mit kniffligen Fragestellungen beschäftigen können. In der Regel wird dieses Angebot von den besonders interessierten und motivierten Schülern gerne angenommen.

Bleibt anzumerken, dass Binnendifferenzierung und Individualisierung um so leichter durchführbar sind, je besser eine Bildungseinrichtung insgesamt darauf eingestellt ist. An einer Schule, die über geeignete Materialien zum Selbstlernen verfügt (z.B. eine Mathegymlizenz 🙂 ) und deren Lehrkräfte diese Form des Unterrichts auch mehrheitlich unterstützen, ist selbstgesteuertes Lernen natürlich viel leichter umzusetzen als an Schulen, wo die meisten Lehrkräfte nur Frontalunterricht praktizieren.