Schlechte Noten geben nur die miesen Lehrer!?
Neulich erzählte eine Bekannte bei Kaffee und Kuchen begeistert von der tollen Mathelehrerin ihres Sohnes, der die achte Klasse am Gymnasium besucht. Leon habe dieses Jahr so richtig Spaß an dem bisher eher ungeliebten Fach und auch die Noten seien viel besser als in der siebten Klasse. Seinen Mitschülern würde es ganz ähnlich ergehen.
Natürlich wollten alle Teilnehmer des Kaffeekränzchens wissen, mit welchen Mitteln diese Lehrerin, nennen wir sie Frau Müller, denn ihren Schülern einen so außergewöhnlichen Motivationsschub verabreichen konnte. Wir erfuhren, dass sie einfach „wahnsinnig nett“ mit den Jugendlichen umgehe und bei der Benotung „äußerst fair“ sei. Besonders angetan aber war meine Bekannte davon, wie Frau Müller ihre Klasse auf die schriftlichen Prüfungen vorbereitet: Vor jeder Schulaufgabe – so nennt man am bayerischen Gymnasium die großen Leistungstests, von denen das Jahr über drei bis vier geschrieben werden und die die Zeugnisnote zu zwei Dritteln bestimmen – stelle die Lehrkraft einen Probetest, der vom Umfang her einer Schulaufgabe gleiche. Dieser Probetest werde anschließend im Unterricht korrigiert, die Lösungswege bei dieser Gelegenheit noch einmal ausführlich wiederholt. Die Schüler seien bei dieser Wiederholungsstunde enorm aufmerksam, denn meistens kämen in der richtigen Schulaufgabe dann fast genau dieselben Aufgaben, selbstverständlich mit abgewandelten Zahlen, dran. Infolge dieser professionellen Vorbereitung erziele Frau Müller bei fast jeder Prüfung sehr erfreuliche Ergebnisse. Sechser gäbe es bei ihr praktisch keine und Fünfer nur sehr selten. Warum, so schloss meine Bekannte ihren Vortrag, könnten es denn nicht alle Lehrerinnen und Lehrer wie Frau Müller halten – die Schüler hätten dann viel mehr Spaß und wären weniger gestresst.
Dieser Blogbeitrag ist allen Schülern und Eltern gewidmet, die in Frau Müller, gleich meiner Bekannten, ein Vorbild sehen. Eines darf ich vorwegnehmen: Sie irren sich gewaltig! Im Folgenden werde ich fünf weit verbreitete Vorurteile über Noten aufdecken und am Ende des Beitrags dann noch einmal auf Frau Müller und ihre Prüfungspraxis zu sprechen kommen.
Vorurteil 1: Schüler hassen Prüfungen und Noten
Wer aus den fortwährenden Klagen der Schüler über ihren enormen Prüfungsstress ableitet, dass diese von einer Schule ohne Prüfungen und Noten träumen, liegt völlig falsch. Ich habe über viele Jahre hinweg mit unterschiedlichen Klassen über das Thema gesprochen. Die große Mehrheit fände Schule ohne Noten ziemlich langweilig. Auch abgemilderte Reformideen wie etwa die, statt der Notenstufen 1-6 nur noch zwischen „Ziel erreicht“ und „nicht erreicht“ zu unterscheiden, macht aus Sicht der meisten Schüler wenig Sinn. Sie wollen wissen, wo sie stehen und wie gut sie im Vergleich zu anderen sind.
Aus Schülersicht kann ich das gut nachvollziehen, wenngleich mein Leben als Lehrer um einiges leichter wäre, müsste ich keine Noten machen. Schlechte Bewertungen belasten nämlich die Schüler-Lehrer-Beziehung mitunter sehr. Dabei sind nicht die Noten selbst das Problem, sondern die Art, wie manche Schüler und Eltern damit umgehen. Oft messen sie den Noten eine völlig übersteigerte Bedeutung bei.
Vorurteil 2: schlechte Note ⇒ fieser Lehrer
Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass so richtig schlechte Noten vor allem von fiesen Lehrern zu erwarten sind. Fünfer oder Sechser im Zeugnis können doch nur gefühlskalte, wenig empathische Menschen geben. Ein guter, engagierter Lehrer dagegen schafft es immer irgendwie, einen schwachen Schüler noch auf die rettende Vier zu hieven, oder?
Falls du ein Schüler bist, der von Jahr zu Jahr um die Versetzung bangt und bislang das „Glück“ hatte, am Ende durch „nette“ Lehrer gerade noch den Sprung in die höhere Klassenstufe zu schaffen, so könntest du auch Opfer eines Betrugs sein. Evtl. hat man dir und deinen Etern vorenthalten, frühzeitig das Lernen zu lernen oder über einen Schulartwechsel nachzudenken. Schlechte Noten tun zwar weh, signalisieren dir aber auch deutlich, dass du an deinem Lernverhalten etwas ändern musst. Schüler, die dieses Signal nicht deutlich und früh genug bekommen, erkennen dagegen oft viel zu spät, was notwendig wäre. Ich habe in meiner Zeit als Lehrer und Schulpsychologe viele Schülerinnen und Schüler erlebt, die durch lasche Notengebung viele Jahre am Gymnasium verschwendet haben.
„Großzügige“ Notengebung kann übrigens auch für Schüler, bei denen es nicht ums Durchfallen geht, zu einem Problem werden. Wenn du in der Oberstufe an eine Lehrkraft gerätst, die ihre Klausuren viel zu einfach stellt und dir damit vorgaukelt, du wärst auf Einserkurs, könnte das Abitur für dich recht enttäuschend ausfallen. Vermutlich passierte genau das im Fall der FOS-Abiturientien, die vor ca. vier Monaten folgenden Kommentar auf meinem YouTube-Kanal hinterlassen hat (s.u.). Hätten die Lehrer dort ihre Schüler mehr gefordert und wären sie anspruchsvoller bei der Notenvergabe gewesen, hätte es für die Abiturienten dort besser laufen können.
Ich hab Fachabi in der FOS geschrieben… war immer bei 14/15 Punkten, nie Schwierigkeiten gehabt und war mit dem Abi, so wie beim Üben 1h vorher fertig. Ich hatte keine Aufgabe die mir schwer vorkam. Wir haben heute die Noten bekommen ich hab 7 und damit die meisten in der Klasse. Jetzt wurde zwar von der Schulleitung gesagt, dass des Abi dieses Jahr in jedem Fach den schlechtesten Durchschnitt in allen Abifächern hatte, seit es diese Schule gibt, aber ehrlich das hilft mir absolut nicht weiter…
@Schniefchen1
Vorurteil 3: Guter Lehrer ⇒ gute Noten?
Für die meisten Schüler und Eltern scheint selbstverständlich: wenn ein Lehrer guten, verständlichen Unterricht praktiziert und alle Verständnisfragen seiner Schützlinge geduldig beantwortet, sind auch gute Ergebnisse in den Prüfungen zu erwarten. Dass es oft nicht so ist, kann unterschiedliche Ursachen haben. Zum einen können viele leistungsschwache und lernunwillige Schüler in der Klasse den Schnitt erheblich nach unten ziehen. Der engagierten Lehrerin mag es zwar gelungen sein, den Stoff sonnenklar zu vermitteln – die Wiederholung der verschiedenen Stoffgebiete fällt dennoch in den Verantwortungsbereich der Schüler. Ebenso die Performance im Test. „Verstehen“ ist das eine, das Verstandene richtig umzusetzen das andere.
Dazu kommt, dass gute Lehrer oft nicht nur einen hohen Anspruch an sich haben (sonst wären sie nicht so gut), sondern auch ihre Schüler im positiven Sinne fordern und es ihnen daher nicht zu leicht machen. Mindestens eine Transferaufgabe (Aufgabentyp, der so im Untericht noch nicht behandelt wurde) gehört bei einem anspruchsvollen Lehrer am Gymnasium zum absoluten Muss bei der Schulaufgabenkonzeption. Ebenso wird er den Prüfungsstoff nicht stark einschränken durch Fokussierung auf wenige Aufgabentypen.
Vorurteil 4: Schlechter Unterricht ⇒ schlechte Noten
Vielleicht hast du das schon erlebt: über Wochen mühte sich die Lehrkraft im Unterricht ab, aber kaum ein Schüler konnte oder wollte ihr dabei folgen. Ständig gab es Beschwerden von Elternseite, die Befürchtungen vor der Prüfung waren groß – und dann fallen die Ergebnisse der Klassenarbeit überraschender Weise doch ganz passabel aus. Wie kann das sein?
Während die Lehrkraft sich einreden wird, dass der Unterricht offenbar doch Früchte getragen hat, gibt es für dieses Phänomen naheliegendere Erklärungen. Zum einen hat man es als Lehrerin und Lehrer zu einem großen Teil selbst in der Hand, den Anspruch einer Klassenarbeit festzulegen. Lässt man Transferaufgaben konsequent weg, schafft das schon einmal eine wesentliche Erleichterung für die Schüler. Übt man dann noch eine handvoll Aufgaben vor der Prüfung hoch und runter und bringt genau diese in der Schulaufgabe dran, ist keine böse Überraschung mehr zu erwarten. Aber man sollte sich dabei schon bewusst sein, dass hier der gymnasiale Anspruch weit unterboten wird.
Ein zweiter Grund, warum sich grottenschlechter Unterricht nicht unbedingt in schlechten Noten bemerkbar machen muss, sind die vielfältigen Übungsmöglichkeiten, die heutzutage online abrufbar sind: Übungstutorials auf YouTube, Lernplattformen (Mathegym lässt grüßen ;-), Probeschulaufgaben mit ausführlich dargebotenen Lösungswegen – alles sofort mit ein paar Klicks erhältlich. Neben Eltern als Hilfslehrern und natürlich der klassischen Nachhilfe, die es schon immer gab.
Richtig ist also: beherrscht eine Lehrkraft ihr Handwerk nicht, bedeutet das unmittelbar viel mehr Zeitaufwand und mitunter auch Ausgaben für Schüler und Eltern. Der Verursacher kann indes beruhigt sein: dank dieser privaten Zusatzleistungen geht die Klassenarbeit dann schon ganz gut über die Bühne.
Vorurteil 5: Schlechte Note ⇒ Lehrer hasst mich
Manche Schüler nehmen Noten sehr persönlich. Fällt die Zensur schlechter aus als erwartet, werten sie dies als klares Anzeichen dafür, von der Lehrkraft nicht gemocht zu werden. Dummerweise bestätigt sich diese falsche Annahme durch eine ungünstige Dynamik am Ende oft von selbst. Denn während der Schüler seiner Lehrerin, von der er sich abgelehnt fühlt, unfreundlich bis unverschämt gegenübertritt, verliert diese zunehmend die Geduld und hat ihn dann irgendwann tatsächlich auf dem Kieker.
Hüte dich als Schüler also vor negativen Überzeugungen wie „die mag mich nicht“ und frage stattdessen freundlich nach, wie die Note zustandekam bzw. nach welchen Kriterien deine Lehrerin bewertet. Dann weißt du auch, wie du es das nächste Mal besser machen kannst.
Zurück zu Frau Müller…
Widmen wir uns zum Schluss noch einmal der Prüfungspraxis von „Frau Müller“, die meine Bekannte als beste Lehrkraft der Schule betrachtet. Aus laienhaftem Blickwinkel mag Frau Müller eine erfolgreiche Lehrerin sein, aber nüchtern betrachtet macht sie sich lediglich durch eine anspruchslose Prüfungspraxis bei ihren Klienten beliebt. Während ihre Kollegen von Schülern verlangen, den Stoff der letzten sechs Wochen zu wiederholen und damit etwa 30 Aufgabentypen, grenzt Frau Müller das Wiederholungspensum auf fünf bis zehn Aufgaben ein. Ich wage zu behaupten, dass selbst Schüler, die bei ihr die letzten sechs Wochen im Unterricht durchgeschlafen haben, nach einem Nachmittags-Nachhilfe-Crashkurs in der Lage sind, Frau Müllers Schulaufgabe mit mindestens Note 4 zu bestehen.
Schüler und Eltern können sich über das entspannte Matheschuljahr noch so sehr freuen – das bittere Ende kommt zwangsläufig. Spätestens beim Lehrkraftwechsel zum nächsten Schuljahr. Das alles solltest du bedenken, wenn du das nächste Mal der Meinung bist: mein Lehrer, der fiese Hund, bewertet viel zu streng!