Was ist faul am Indien-NRW-Vergleich von Prof. Dr. Krötz?
Ein Kommentar von Rainer Ammel
Ich möchte in diesem Blogbeitrag auf das Video „Schulmathematik: Vergleich Indien – NRW“ von Prof. Dr. Krötz reagieren. Dieses ist zwar schon fünf Monate alt, erhält aber nach wie vor viel Aufmerksamkeit. Mittlerweile wurde es fast eine Viertelmillion Mal aufgerufen.
Wer Prof. Dr. Krötz nicht kennt: er ist Mathe-Professor an der Paderborner Universität und kritisiert seit einigen Jahren den seichten Mathe-Unterricht an deutschen Schulen. Dazu veröffentlicht er auf seinem YouTube-Kanal „Prof. Dr. Krötz“ regelmäßig Videos, in denen er Ursachen des Verfalls beschreibt und sich Berufsgruppen vorknöpft, die er dafür verantwortlich macht.
Ein mögliches Missverständnis möchte ich im Vorfeld aus dem Weg räumen: Als Betreiber einer der größten Mathe-Lernplattformen bin ich nicht am Niedergang schulischer Bildung in Deutschland interessiert. Dieser Verdacht wird gerne von Anhängern des streitbaren Professors erhoben, schließlich würde ich doch finanziell vom vermeintlichen Versagen der Schulen profitieren – weshalb ich mich gefälligst mit Kritik an Krötz zurückhalten solle. Tatsächlich verhält es sich aber genau umgekehrt: unsere Plattform Mathegym verkauft sich vor allem in solchen Bundesländern und an solchen Schulen, die für anspruchsvollen Unterricht bekannt sind. Da wir im Gegensatz zu den meisten Konkurrenzprodukten nicht nur einfache Standardaufgaben in unserem Übungsrepertoire haben, sind wir darauf angewiesen, dass Schülerinnen und Schüler im Unterricht auch schwierigere Aufgaben behandeln. Ansonsten können sie mit unserem Angebot wenig anfangen bzw. sind schnell frustriert.
Ich stehe also nicht nur als Lehrer, sondern auch als Unternehmer auf der Seite von Prof. Dr. Krötz, wenn dieser mehr Anspruch im Mathe-Unterricht in seinem Bundesland NRW und vielen anderen Bundesländern einfordert. Warum ich dennoch viele seiner Videos für fragwürdig halte, lässt sich am Beispiel des NRW-Indien-Vergleichs gut aufzeigen.
Starke Spezialisierung an der indischen Highschool
Im ersten Teil seines Videos stellt Krötz in Grundzügen das indische Schulsystem vor mit Fokus auf die letzten zwei Jahre an der Highschool, in denen zwischen den Schwerpunkten Science, Arts und Commerce gewählt werden kann. Wer sich für Science entscheidet, hat pro Woche jeweils sechs Stunden Mathematik, Physik und Chemie sowie ein Wahlfach wie z.B. Informatik. Zu den 24 Wochenstunden kommen noch sechs Stunden Praktikum sowie Fremdsprachenunterricht dazu.
Das ist zunächst mal eine Intensität an Beschäftigung mit Naturwissenschaften, die man an deutschen Schulen so nicht findet, auch in Bayern und Sachsen nicht; natürlich sagt die Stundenanzahl nichts über die Qualität aus, aber man darf wohl annehmen, dass indische Schüler mit dieser Schwerpunktausrichtung am Ende der Highschool in mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern wesentlich fitter sind als Schüler hierzulande. Es würde sich an dieser Stelle anbieten, die Vor- und Nachteile einer derart ausgeprägten Spezialisierung abzuwägen – leider nimmt das Video von Krötz aber einen ganz anderen Weg.
Erbarmungslose Auswahltests für technische Studiengänge
Als nächstes stellt er nämlich das Zulassungsverfahren für technische Studiengänge in Indien vor. Es geht um das Joint Entrance Exam (JEE), das aus einem Hauptest „Main“ und – wer den bestanden hat – einem zweitem Test „Advanced“ besteht. Nach Krötz Angaben nehmen an dem Haupttest jährlich etwa 1,5 Mio Bewerber teil, von denen jeder dritte besteht. 400 000 Personen nehmen dann an dem Advanced- Test teil (wir konnten die Angaben aus dem Video leider nicht bestätigen, auf Wikipedia finden sich davon stark abweichende Zahlen; den Advanced Test besten nach unserer Recherche ca. 25% aller Teilnehmer). Mal abgesehen davon, dass Krötz für die genannten Zahlen keine Quellen nennt, irritiert vor allem die Tatsache, dass er schulisches Terrain verlässt – wo doch im Titel seines Videos von „Schulmathematik“ die Rede ist.
Wie zu erwarten war, sind die Aufgaben, die er aus einem JEE Advanced präsentiert, Lichtjahre von dem entfernt, was deutsche Schüler am Gymnasium lernen. Beim Anblick dieser Aufgaben stellt sich das das unmittelbare Gefühl von Unterlegenheit ein. Wenn nicht mal ich als Lehrer solche Aufgaben lösen kann – wie ist es dann um unser Bildungssystem bestellt?
Deutsche Abituraufgaben im Vergleich lächerlich einfach
Mit einer gewissen Folterlust hält Prof. Dr. Krötz nun Aufgaben aus dem neuen NRW-Kernlehrplan Mathematik dagegen. Wir sehen Aufgaben zum natürlichen Logarithmus in Q11, also der elften Jahrgangsstufe, die im Vergleich zu den Aufgaben des JEE läppisch wirken. Wer bis dahin als NRW-Mathelehrer noch keinen Minderwertigkeitskomplex ausgebildet hat, soll spätestens jetzt so weit sein.
Doch ist der Vergleich legitim? Nein, das ist er nicht!
Denn wer am JEE teilnimmt, hat die Schule längst verlassen. Die meisten Bewerber dürften in der Schule den technischen Schwerpunkt gewählt haben, entsprechend komplex sind die Anforderungen. Noch dazu werden hier Aufgaben aus dem zweiten Teil des Tests vorgestellt, der sicher noch einmal einen Gang zulegt bzgl. der Schwierigkeit.
Wer dagegen sein Abi ablegt, ist noch Schüler. Die gezeigten Aufgaben entstammen in etwa dem A-Teil (dem leichteren) des Mathe-Abiturs, an dem in vielen Bundesländern alle Schüler teilnehmen müssen, also auch solche, deren Interessenschwerpunkt alles andere als Mathematik ist.
Auch die Funktionen beider Prüfungen sind grundverschieden. Während es beim JEE um das knallharte Aussieben von Bewerbern geht – weniger als 10% bestehen beide Tests – geht es bei der Abi-Prüfung darum, möglichst viele Schüler mitzunehmen. Die Abi-Prüfung ist so konzipiert, dass jeder, der bis dahin gekommen ist und sich gewissenhaft vorbereitet, diese auch besteht.
Der JEE dagegen will aus einer Überzahl von Bewerbern nur die allerbesten auswählen. Er orientiert sich an den vorhandenen Ausbildungskapazitäten und am Bedarf für technische Berufe in Indien. Also verwendet er Aufgaben, die weit über dem Niveau des Schulunterrichts sind und überlässt es den Bewerbern, sich dafür fit zu machen. Die machen das unter erheblichem finanziellen und zeitlichen Aufwand. Viele buchen dazu teure Coaching-Centers, die Krötz in seinem Video kurz, aber nicht in diesem Kontext erwähnt, und bereiten sich zum Teil mehrere Jahre auf diese Prüfungen vor.
Ist Mathematik für Werteerziehung zuständig?
Derlei Überlegungen erschließen sich leider nicht sofort. Noch ehe man den ersten Versuch unternimmt, über den schrägen Vergleich zu reflektieren, schenkt Krötz gleich ordentlich nach. Dazu blättert er zu Seite 12 des Kernlehrplans, um uns zu zeigen, für was der Mathematikunterricht in NRW nach dem Willen der Lehrplanmacher noch so alles verantwortlich sein soll. Wir lesen Begriffe wie Menschrechtsbildung, Werteerziehung, Demokratieerziehung usw. Aha, hört man sich sagen, kein Wunder, dass unsere Schüler in Mathe nichts können, wenn sie im Unterricht ihre Zeit auch noch mit derartigem Gedöns verschwenden!
Aber ist das tatsächlich die Intention des Lehrplans? Nein, es geht um etwas ganz anderes!
Es geht darum, dass jedes Fach, auch Mathematik, seinen Beitrag liefert zu diesen sehr wichtigen Bildungsaufgaben. Das ist in meinem Bundesland Bayern übrigens nicht anders. Ich verweise auf Art. 131 der Bayerischen Verfassung:
(1) Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.
(2) Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt
Dass diese übergeordneten Bildungsziele auch im Mathematikunterricht Berücksichtigung finden sollen heißt nicht zwangsläufig, dass der Mathelehrer mit seinen Schülern über Weltreligionen diskutiert. Aber wenn Aufgaben im Sachkontext behandelt werden, sollte man als Lehrkraft auf dem Schirm haben, dass durch die Aufgabentexte und Bilder Aussagen über die Welt getroffen werden. Enthalten diese Klischees? Welche Werte werden transportiert? Muss es immer die Hausfrau sein, die auf dem Markt 10 Eier zum Preis von 3€ kauft oder kann da nicht auch mal der Vater in Erscheinung treten? Und was sind das überhaupt für Eier? Legebatterie oder Freilandhaltung? Muss immer der volle Benzintank Ausgangspunkt für eine Aufgabe sein oder kann es nicht auch mal um E-Mobilität gehen?
Falls sich indische Schulen um derartige Fragen keine Gedanken machen, so wäre das alles andere als nachahmenswert. Zu Recht stellt der Münchner Merkur in Hinblick auf die von Krötz belächelten übergeordneten Bildungsziele fest: „Die Zielvorgaben sind genau jene Parameter, bei denen Indien noch Aufholbedarf hat. In dem 24 Minuten langen Video geht er nicht auf die Frage ein, inwiefern das Land grundsätzlich Vorbild sein sollte. Immerhin landet Indien in der Demokratiematrix der Universität Würzburg auf dem 84. Rang. Deutschland steht auf dem fünften Platz.“
Vorsicht bei Europa-Asien-Vergleichen
Überhaupt sollte bei Leistungsvergleichen zwischen Europa und Asien nicht der Fehler gemacht werden, kulturelle Normen auszublenden. Wenn indische oder chinesische Schüler bessere Leistungen zeigen, so müssen die Schulsysteme dort nicht überlegen sein. Eher liegt es am enormen Konformitätsdruck in den kollektivistisch geprägten asiatischen Kulturen, dass Familien dort mit großem Nachdruck die schulische Karriere ihrer Kinder vorantreiben. Die Ausgaben für private Nachhilfe pro Kopf sind dort noch höher als hierzulande. Der Druck führt aber nicht nur zu besseren Leistungen, sondern auch zu mehr psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter.
Auch die politische Dimension ist nicht unwesentlich bei der Erklärung von Leistungsunterschieden. Ein Land wie China, in dem eine dauerhaft herrschende Partei uneingeschränkt gestalten kann, tut sich bei der konsequenten Umsetzung von Reformen deutlich leichter als ein demokratisch geführter Staat.
All das sollte man mit berücksichtigen, wenn man neiderfüllt nach Asien blickt. Die besseren Leistungen gibt es nur im Gesamtpaket.
Fazit: die Kritik von Prof. Dr. Krötz am laschen deutschen Schulsystem mag im Grunde berechtigt sein. Eine Diskussion über Anspruch, Lehrpläne und Lehrmethoden muss geführt werden. Auch internationale Vergleiche sind wichtig. Aber schräge und eindimensionale Vergleiche mit asiatischen Schulsystemen führen nicht weiter. Wer absichtlich Äpfel mit Birnen vergleicht macht sich unglaubwürdig.